Zur Startseite
  • Programm
  • Reihen
  • Förderer
  • Autor*innen
  • Zeitschriften
  • Studium
  • BiUP
  • mdwPress
  • Info
  1. Start
  2. Programmbereiche
  3. Philosophie
  4. Sozialphilosophie und Ethik
  5. Außeruniversitäre Aktion. Wissenschaft und Gesellschaft im Gespräch
  6. Über kritische Performativität und performative Kritik

Über kritische Performativität und performative Kritik

DOI: 10.14361/aua-2022-010115
  • Photo Lagaay,  Alice
    Lagaay, Alice
  • Photo Suchard,  Anna
    Suchard, Anna ORCID: 0000-0002-7987-7854

Schlagworte

  • theory building
  • knowledge transfer
  • performative philosophy
  • art
  • practice
Book Cover [Title]
menu_book Zum Gesamtwerk picture_as_pdf Beitrag herunterladen (PDF) chrome_reader_mode Beitrag lesen (HTML) description Zitationsinformation
journal!Lagaay, Alice/Lagaay, Alice. 2022. . Über kritische Performativität und performative Kritik. In: Außeruniversitäre Aktion. Wissenschaft und Gesellschaft im Gespräch April 2022, Jg. 1, Ausgabe 1. ???(1): 161-172. Retrieved 2023-01-31 from doi:10.14361/aua-2022-010115

© Lagaay, Alice/Lagaay, Alice © by This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 License (CC BY 4.0)

Retrieved 2023-01-31 8:49:20-CETtext_snippet Download RTF
Views / Downloads
3204 / 934
Erscheinungstermin
01. April 2022
Creative Commons Lizenz
Creative Commons cc-by
Open Access enabled by
Universität Wien, Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft

Beiträge

cancel
kritisch leben?

Akin, Helen | Salzwedel, Cindy | Helfritzsch, Paul

living critically?

Akin, Helen | Salzwedel, Cindy | Helfritzsch, Paul

BERICHT ÜBER DIE GEFÄHRDUNG VON FRAUEN UND FEMIZIDE IN DEUTSCHLAND

Germany

Wolff, Kristina Felicitas

DIE HEIMTÜCKEN DES ALLTAGSRASSISMUS

Ich, Dilek Divan

Divan, Dilek

PERSPEKTIVEN AUF DIE INKLUSION VON UND DIE ARBEIT MIT MENSCHEN MIT BEHINDERUNG

Behinderungen – das sind Facetten und Möglichkeiten des Menschseins

Akin, Helen

Inklusionsanspruch und Schulwirklichkeit

Kleinteich, Huschke

Die Schulbegleitung muss kein bürokratisches Monster bleiben

Akin, Helen | Salzwedel, Cindy | Helfritzsch, Paul

PERSPEKTIVE EINER TRANSIDENTEN PERSON: GESAMTGESELLSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG UND PERSÖNLICHE WEGE DER SELBSTVERWIRKLICHUNG

Kritik heißt nicht nörgeln, sondern machen!

Diezemann, Dana | Akin, Helen

FEMINISTISCHE ORGANISATION IM KAMPF GEGEN STAAT, PATRIARCHAT UND KAPITALISMUS

Frauen*Streikbündnis Jena – Auf zum feministischen Streik

Akin, Helen | Salzwedel, Cindy | Helfritzsch, Paul

PFLEGENOTSTAND UND DIE PROBLEME MEDIZINISCHER VERSORGUNG AM MASSSTAB DER MENSCHENRECHTE

Ist Gesundheitsversorgung in Deutschland kein Menschenrecht?

Akin, Helen | Salzwedel, Cindy | Helfritzsch, Paul

Lasst uns die Gesundheit über die Profite stellen!

Salzwedel, Cindy

ÜBER ARBEITSRECHTE, STAATLICHE AKTIVIERUNGSMASSNAHMEN UND KLASSENKAMPF

Ungenügend, schikanös und kontraproduktiv – die Hartz-IV-Gesetzgebung aus der Perspektive einer Sozialarbeiterin

Cömert, Verena

Klassenkampf erlernen – gewerkschaftliche Basisarbeit an der Universität

Wunderlich, Anna | Sommer, Christoph

AKADEMISCHE KRITIKVERSTÄNDNISSE – POTENTIALE FÜR EINE EMANZIPATORISCHE PRAXIS

Kritik (in) der Kritischen Theorie

Breitenstein, Peggy H.

Über kritische Performativität und performative Kritik

Lagaay, Alice | Suchard, Anna

ÜBER UNS, DIE IDEE DIESER ZEITSCHRIFT UND IHRE KÜNSTLERISCHE UMSETZUNG

Von Reims bis Jena

Akin, Helen

Kritik als Pendelbewegung

Salzwedel, Cindy

Kritik als Stolpern und Erschrecken – Kritik aus Trotz

Helfritzsch, Paul

Kritische Töne anschlagen

Weisz, Joule

menu_open
DOI: aua-2022-010115

Über kritische Performativität und performative Kritik1

Alice Lagaay im Gespräch mit Anna Suchard (vm. Seitz)

Abstract

In this conversation, Alice Lagaay and Anna Suchard (a.k.a. Seitz) discuss the search for new formats for the communication of philosophical content through various means of performance, thereby developing a critical view of habituated forms and hierarchies of discourse in academia. Knowledge, they suggest, does not only require solitude, a writing desk separate from the »world«; it also relies essentially on dialogue, events, processes of mingling, in the context of which it is generated together with others, as practice.

Title

On critical performativity and performative critique

Keywords

theory building, knowledge transfer, performative philosophy, art, practice

Alice Lagaay: Seit einiger Zeit sind vermehrt Initiativen erkennbar, die neue Formate für die Vermittlung von philosophischen Inhalten suchen und ausprobieren. Solche Initiativen finden sowohl innerhalb als auch außerhalb des universitären, rein akademischen Rahmens und insbesondere an der Schnittstelle zwischen Räumen statt, wo Wissenschaft und Kunst sich treffen. Im deutschsprachigen Raum sind Beispiele für diese Entwicklung etwa der in Leipzig sitzende Verein Expedition Philosophie e. V. und die damit zusammenhängende Veranstaltungsreihe Soundcheckphilosophie3 oder die Wiener Festival-Reihe Philosophy on Stage. Auf internationaler Ebene werden diese und andere vergleichbare Aktivitäten unter dem offenen Schirm des 2011 gegründeten Forschungsnetzwerkes Performance Philosophy4 versammelt. Die vielen verschiedenen Projekte und Ansätze, die sich als Performance Philosophy verstehen, lassen sich nicht leicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Doch viele sind von dem Wunsch bzw. Bedürfnis motiviert, inhaltliche Erkenntnisse der Wissenschaft nicht nur rein diskursiv zu halten und zu vermitteln, sondern mit den Mitteln der Performance (im weitesten Sinne verstanden) das Theoretische zu verkörpern und weiter zu erforschen. Obgleich es in den Lösungsansätzen dieser Initiativen (noch) keinen eindeutigen gemeinsamen Nenner gibt, scheinen sie sich unabhängig voneinander darin einig zu sein, dass aktuell eine gewisse Dringlichkeit besteht, nicht mehr länger nur neue Inhalte zu produzieren, sondern bestehende philosophische Formate auch neu zu hinterfragen. Anna, du bist ebenfalls Mitglied von Performance Philosophy, in welchem Licht siehst du diese Entwicklungen?

Anna Suchard (vm. Seitz): Du hast es schon angedeutet: Jede Innovation beinhaltet natürlich immer auch eine Kritik am Status quo und in dieser Kritik scheinen sich immer mehr Philosoph*innen einig zu sein. Wenn wir diese Kritik ernst nehmen, können wir uns nicht einfach nur inhaltlich im üblichen Standard-Tagungsformat damit befassen, sondern müssen auch unsere Formate befragen, denn diese strukturieren unser Handeln. Performance Philosophy strebt einen Austausch der Disziplinen an, dessen Grundvoraussetzung eine Enthierarchisierung der Wissenskulturen und ihrer Formate sein muss. Statt sie nur additiv nebeneinander stehen zu lassen, versuchen wir im Kontext unserer Veranstaltungen ihre Permeabilität, die Durchlässigkeit ihrer Grenzen zu erproben. Das übliche Standardformat von Konferenzen wird nämlich zwar immer häufiger kritisiert, wie du richtig beobachtest, aber meist fehlt die Zeit und vielleicht auch der Mut, Alternativen zu erfinden und auszuprobieren. Performance Philosophy will hier einen Freiraum zur Verfügung stellen, in dem Vertreter*innen unterschiedlicher Disziplinen gemeinsam auch in Bezug auf Formate experimentieren und so ihren Alternativsinn schulen. Dabei geht es gerade nicht um schnelle Lösungen wie TED-Talks oder dergleichen. Die Dramaturgie einer Performance Philosophy-Konferenz zielt darauf ab, solche Versuchsanordnungen zu erarbeiten, die dann im Laufe der Konferenz ausgewertet, d.h. im Rahmen der Veranstaltung selbst, erlebt und kritisch reflektiert werden können. Es geht unter anderem darum, uns unserer eigenen blinden Flecken bewusst zu werden, einen distanzierten Blick auf die eigene Kultur zu erproben und ihrer ästhetischen und ethischen Dimensionen ansichtig zu werden, um so reflektieren zu können, wie wir eigentlich (meist unreflektiert) handeln und in Abgrenzung dazu besser handeln könnten. Neben einer gewissen Enthierachisierung von Wissensformen kann dadurch auch eine Demokratisierung von Input/Output und dialogischem Austausch in Form eines gemeinsamen Denkens und Sprechens gelingen. Bestenfalls wird Wissen dann nicht einfach nur konsumiert, sondern interaktiv handelnd generiert. Diese Praxis ist in einem Standard-Tagungsformat üblicherweise schlichtweg nicht vorgesehen, wie sich deutlich an den Zeitstrukturen ablesen lässt. Wenn es zum Beispiel nach 20 Minuten Vortrag 10 Minuten »Diskussion« geben soll, kann natürlich kein gemeinsamer Wissensgenerierungsprozess eingeleitet werden. Für Wissensgenerierungsprozesse brauchen wir dialogische Prinzipien, Zwischen‐räume, in denen sich etwas (neues) ereignen kann, das ohne diese Begegnung nicht hätte stattfinden können.

AL: Ja! Die Erfahrung, etwas gemeinsam zu denken, beflügelt geradezu solche Erkenntnisprozesse. Wir sind als Philosoph*innen ständig auf das Kollektive angewiesen, schließlich entwickeln wir unser Denken auf Basis der Gedanken von anderen und im Austausch mit ihnen, aber wenn wir vor den Kolleg*innen auf einer Konferenz etwas vortragen, dann sind wir meistens kein Kollektiv mehr, sondern einzelne Egos (wie im Übrigen auch das Publikum: Es ist kein kollektiver Publikumskörper, sondern eine Ansammlung von Individuen). Paradoxerweise ist das Format »Konferenz« jedoch eine der seltenen Gelegenheiten für uns, die wir hauptsächlich allein an unseren Tischen mit unseren Texten sitzen, in einen kollektiven Austauschprozess einzutreten. Warum also lassen wir es zu, dass uns auch hier durch die Organisation der Formate die Möglichkeit abhandenkommt, in einen kollektiven Denkprozess einzutreten? Mir fällt es schwer zu verstehen, warum wir diese Gelegenheiten nicht ergreifen, um uns zu versammeln, das heißt, uns in irgendeiner Weise zu verbinden, auszutauschen, statt uns einfach nur an einem Ort anzusammeln und uns Texte vorzulesen, die wir auch allein zu Hause lesen könnten. Für mich würde diese Praxis nur dann Sinn machen, wenn wir zumindest (auch) Interesse darauf verwenden würden, wie ein Text präsentiert wird, doch gerade das Wie eines Vortrags ist in akademischen Kreisen seltsam tabuisiert.

AS: Das stimmt. Fragen der Performativität sind zwar seit einiger Zeit in Mode, aber sie werden kaum auf die eigenen Performanzen angewandt. Mich erinnert das manchmal an das glücklicherweise überholte Verständnis von Theater im 19. Jahrhundert als nichts weiter als auf die Bühne gebrachter Text, das uns heute schlichtweg absurd erscheint. Es ist die Frage, ob nicht auch eine Aufführungskultur von Philosophie (und von wissenschaftlichen Inhalten ganz allgemein) notwendig wäre, die nicht nur danach fragt, worum es in einem Vortrag geht, sondern auch darum, wie er aufgeführt wird. Schließlich ist es ein altbekanntes Faktum (gerade in der Philosophie), dass Formen Inhalte maßgeblich mitbestimmen. Warum also, umgekehrt gefragt, dürfen wir es uns als gute Wissenschaftler*innen überhaupt erlauben, die Aufführungsformen zu ignorieren? Mir scheint, dass uns dies wieder auf die Spur von Heideggers Frage Was ist das – die Philosophie? führt. Er schreibt:

Wenn wir fragen: Was ist das – die Philosophie?, dann sprechen wir über die Philosophie. Indem wir auf diese Weise fragen, bleiben wir offenbar auf einem Standort oberhalb und d.h. außerhalb der Philosophie. Aber das Ziel unserer Frage ist, in die Philosophie hineinzukommen, in ihr uns aufzuhalten, nach ihrer Weise uns zu verhalten, d.h. zu »philosophieren«. Der Weg unserer Gespräche muss deshalb nicht nur eine klare Richtung haben, sondern diese Richtung muss uns zugleich auch die Gewähr bieten, dass wir uns innerhalb der Philosophie bewegen und nicht außen um sie herum. Der Weg unserer Gespräche muss also von einer Art und Richtung sein, dass das, wovon die Philosophie handelt, uns selbst angeht, uns berührt (nous touche), und zwar uns in unserem Wesen.5

Siehst du hier eine Verbindung? Müssten wir nicht mehr Sorgfalt darauf verwenden, zu untersuchen, wie Philosophie handelt, um zu verstehen, was Philosophie ist?

AL: Unbedingt! Jeder philosophische Denkprozess ist ja evoziert durch das Berührt- oder auch das Betroffensein von einem Gedanken oder einem Phänomen. Und im selben Zug geht es natürlich auch immer um die Frage: Warum betreiben wir überhaupt Philosophie? Nur um akademisch voranzukommen? Hier öffnet sich ein interessantes Dialogfeld. Beides sind Fragen nach Handlungen, und Fragen nach Handlungen sind stets Fragen der Performativität, und Fragen der Performativität sind stets (auch) Fragen nach Aufführungsformen. Es geht natürlich nicht dezidiert um Aufführungsanalysen im Sinne der Theaterwissenschaft, aber wir sollten etwas entwickeln, das Aufführungsanalysen im Sinne von Formanalysen innerhalb der Philosophie bedeuten könnte. Und das beinhaltet gleichzeitig, dass wir als gute Wissenschaftler*innen nicht aufhören dürfen, in unseren Formaten innovativ zu sein. Richard M. Carp formuliert es folgendermaßen:

The test of thought, then, is its ability to contribute to practices of living well. Because the universe is surprising, these practices cannot be a static set of skills, but must include the ability to respond appropriately in a dynamic context. Many factors contribute to the dynamism of the world, which appears wherever we look. […] Our (partial) understanding guides us to act in ways that have unexpected results, to which we must respond in novel and unanticipated ways. […] The actions [that] our understanding helps shape today will (sometimes) create circumstances that call for new understandings and new actions. Part of what we need to know is how to change. We must »make room for surprises and ironies at the heart of all knowledge production; we are not in charge of the world« (Haraway, 1996, 125).6

Die Frage nach dem Wie ist also als notwendig relevant für die Frage nach dem Was zu verstehen. Hierin besteht sicherlich ein blinder Fleck der akademischen Gegenwartsphilosophie. Wenn wir fragen »Wie wollen wir leben?«, kommen wir nicht umhin, unsere Performanz unter die Lupe zu nehmen; es ist nicht nur eine Frage nach der Performativität allgemein (Performativität der Welt oder Performativität der Anderen), sondern auch nach unserer eigenen.

AS: Ich frage mich, wann und warum überhaupt diese Verarmung der Formvielfalt in der akademischen Philosophie zustande gekommen ist. Nicht nur in ihren Aufführungspraktiken leiblicher Kopräsenz, wie es die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte nennen würde, sondern auch in den schriftlichen Formaten. Natürlich verändert sich im Laufe der Zeit der Anspruch an Wissenschaftlichkeit; zweifellos würde Platon heute als unwissenschaftlich gelten, von Nietzsche, Augustinus, aber auch von Descartes und Wittgenstein ganz zu schweigen. Aber könnten wir nicht gerade darin einen Auftrag an die Innovation der Form unserer wissenschaftlichen Ansprüche entdecken, sie eben nicht einfach als gegeben und unveränderlich zu empfinden, sondern mutiger sein zu müssen, auch zu scheitern, wenn wir unsere Inhalte nicht korrumpieren wollen? Müssten wir hier nicht von der künstlerischen Praxis lernen, stets zu prüfen, welcher Inhalt nach welcher Form verlangt? Nicht zufällig verwendet Heidegger die Metapher der Holzwege in seiner Frage nach Dem Ursprung des Kunstwerks (und betitelt den Band beispielsweise nicht Autobahnen).

AL: Ein häufiger Vorwurf an experimentelle Formen des Philosophierens, die sich ebendieser Logik künstlerischer Forschung anschließen, neue Formate für neue Inhalte zu erfinden, besteht darin, dass in der Folge bloß schlechte Kunst und schlechte Wissenschaft produziert würde. Ich muss zugeben, dass sich dieser Vorwurf zu meinem Bedauern nicht immer entkräften lässt und solche Ergebnisse natürlich inakzeptabel sind. Aber gerade das spricht in meinen Augen dafür, sich mehr und nicht weniger mit diesen Fragestellungen zu befassen. Auch ist es umgekehrt ja nicht so, dass die standardisierten Formate zwangsläufig eine hohe inhaltliche wissenschaftliche Qualität garantieren, sondern eben bloß eine strenge wissenschaftliche Form. Das ist ein Unterschied! Man kann formvollendet auch jede Menge Unsinn von sich geben. Ich würde daher dafür plädieren, sich gar nicht erst in der gefährlichen, falschen Sicherheit zu wiegen, dass eine bestimmte Form für qualitativ hochwertige Inhalte garantieren könnte. Wir sollten vielmehr Sorgfalt darauf verwenden, dass qualitativ hochwertige Inhalte auch qualitativ hochwertige, das heißt diesen Inhalten angemessene Formen erhalten. Das kann durchaus eine standardisierte Form sein, aber es kann eben auch bedeuten, dass man eine neue Form erfinden muss. Diese Frage gälte es jedes Mal neu zu überprüfen. Und hierin spielt natürlich der von dir angesprochene Mut zum Scheitern eine große Rolle. Ohne diesen Mut zum Scheitern hören wir auf, ergebnisoffen zu sein. Ergebnisoffenheit ist aber eine notwendige Voraussetzung für gute Wissenschaft.

AS: Mir ist ein solcher Widerspruch kürzlich deutlich zu Bewusstsein gekommen, als ich bei einem Vortrag über Darstellungsformen von Kritik war, wo der Redner einen hochakademischen Text (nuschelnd) vorgelesen hat, so dass wir im Publikum tatsächlich kaum etwas verstehen konnten (wofür es aber keinerlei Kritik gab). Da hatte ich den Eindruck, dass seine gewählte Form seine Inhalte völlig korrumpiert. Ich nenne solche Phänomene performative Widersprüche: Die Form negiert den Inhalt und vice versa. Im Bereich der darstellenden Künste ist es völlig normal, auf dieser Klaviatur zu spielen, wir alle kennen Theater- oder Filmszenen, in denen eine Figur mit hochrotem Kopf brüllt: ICH BIN NICHT WÜTEND!!! (An diesem Beispiel kann man auch erahnen, wie stark eine Darstellungsform unsere Wahrnehmung auf der Rezipientenseite bestimmt.) In wissenschaftlichen Aufführungen werden solche Zusammenhänge meist ignoriert, aber natürlich teilen sie trotzdem etwas mit. Die Frage ist nur, ob wir uns in die Lage versetzen, dies zu reflektieren oder nicht.

AL: Wir umkreisen hier natürlich auch Fragen des inkorporierten und habitualisierten Wissens. Mir ist es ein wichtiges Anliegen, mehr über die Verkörperung von Theorie zu verstehen. Ich frage mich, was es bedeuten kann, körperlich zu philosophieren, oder was der Körper einer Philosophie ist.

AS: Ich habe so meine Schwierigkeiten mit dem Begriff des sogenannten Körperwissens. Mir scheint er eine völlig unsinnige Alternative zu implizieren. Was soll unkörperliches Wissen sein? Wissen, das nicht an Körper gebunden ist, ist ja bloß schiere Information, es braucht immer ein Subjekt, also einen Körper, um diese Informationen zu deuten, das heißt zu Wissen zu organisieren. Ich bevorzuge den Begriff des impliziten Wissens, wie ihn Polanyi mit seiner Formel »Wir wissen mehr, als wir zu sagen wissen«7 geprägt hat, denn es gibt natürlich Wissensformen, die nicht, oder nur schwer, sprachlich (und erst recht nicht schriftlich) zu explizieren sind. Meinst du so etwas?

AL: Ja und nein. Es geht fraglos auch um implizite Wissensformen, aber es geht gewissermaßen auch um eine Demokratisierung von Körperteilen. Du hast Recht, dass es kein unkörperliches Philosophieren geben kann. Trotzdem stellt sich mir die Frage, wie man der Verkopftheit der Philosophie beikommen kann, ohne dass sie unseriös wird.

AS: Du willst vermutlich auf eine Demokratisierung von Wahrnehmungsformen hinaus? Natürlich sind auch Augen, Nasen und Münder Teile von Köpfen, und Gehirne organisieren soweit wir wissen nicht nur rationale Vorgänge, sondern auch alle anderen. Die gesamte Hierarchisierung dieser Vorgänge ist ja neurologisch betrachtet längst überholt, aber die Wissenschaften (auch die Naturwissenschaften) operieren nach wie vor mit der Hierarchisierung von sogenannten rationalen vs. irrationalen oder kognitiven vs. sinnlichen Zugängen. Diese ganze Sprechweise ist jedoch inzwischen eigentlich völlig unhaltbar und bedürfte dringend einer Überholung (was meines Erachtens übrigens eine Aufgabe für die Philosophie darstellen würde!).

AL: Das stimmt. Trotzdem müssten wir konsequenterweise nicht nur über die Formate und Aufführungsweisen von philosophischen Ergebnissen nachdenken, sondern eben auch darüber forschen, welche Formen der Generierung philosophischer Erkenntnisse es noch geben könnte. Vielleicht ist es nicht die beste Form, ganz sicher aber ist es nicht die einzige Form, Philosophie zu betreiben, indem wir den ganzen Tag allein an unseren Schreibtischen sitzen:

Specific disciplines of the body correspond to specific experiences of the world. Academic thought is produced by a specifically disciplined body, one that can tolerate sitting for hours in sterile rooms buzzing with the sound of fluorescent lights, listening to word after word after word of lecture after lecture. These bodies have been taught to dissociate from themselves, trained to delay elimination (and even the experience of the need to eliminate), to repress the experience of sexual desire, hunger, and thirst, to still the urge for movement and kinesthetic expression for slumberous physical stillness which is required not only for attending (conferences, classes, laboratories) but also for reading, writing and computer work.8

Wir könnten andere (auch körperlich andere) Praktiken für philosophische Erkenntnisprozesse erforschen. Das Gehen hat beispielsweise eine gewisse philosophische Tradition oder wie Rousseau formulierte: »Im Wandern liegt etwas meine Gedanken Anfeuerndes und Belebendes, mein Körper muß in Bewegung sein, wenn es mein Geist sein soll.«9 Und ebenso Montaigne: »Mein Geist geht nicht voran, wenn ihn nicht meine Beine in Bewegung setzen«10. Am radikalsten formuliert es Nietzsche:

So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden. – Das Sitzfleisch – ich sagte es schon einmal – die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.11

Und wie auch Carp uns erinnert, sind wir nicht einfach unkörperlich in unseren Praktiken, sondern haben eine spezifische Form körperlicher Disziplinierung trainiert. Allerdings ist diese spezifische Form eine, die eine Vielfalt von dissoziativen Fähigkeiten verlangt und von der wir uns daher fragen sollten, ob sie (immer) die geeignete ist, unserem Bedürfnis nach Vollständigkeit von Einsichten zur Geltung zu verhelfen.

AS: Hier besteht tatsächlich noch ein weiterer blinder Fleck der akademischen Gegenwartsphilosophie, wie ich auch bei mir selbst feststellen musste. Obwohl ich vom Theater geprägt bin und in diesem Bereich als Dramaturgin ganz explizit die Verantwortung für Format-Entwicklungen innehabe, war es mir bis vor wenigen Jahren merkwürdigerweise nicht möglich, diese Expertise auf wissenschaftliche Format-Entwicklungen anzuwenden. Es war für mich wirklich eine einschneidende Erkenntnis, als ich erleben durfte, was du an der Universität Bremen mit dem Zentrum für Performance Studies/Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst (ZPS/TdV) verwirklicht hast! Damals ging es in deiner Veranstaltung um genau die Frage nach der Verkörperung und den Aufführungsweisen von Philosophie, und ich war zugegen, als das TdV einen seiner sogenannten Performance-Besuche in deinem Philosophieseminar gemacht hat. Es war phänomenal, wie sich durch eine kleine Performance die gesamte Denk- und Sprechweise der Veranstaltung verwandelte und zu wahren Erkenntnisströmen bei den Teilnehmer*innen führte. Das hat mich tief beeindruckt. Und ich kann mir bis heute nicht erklären, warum ich (als Dramaturgin!) nie selbst auf die Idee gekommen bin, in meinen philosophischen Seminaren performative Strategien anzuwenden! Hierbei scheint mir dieser Umstand nicht nur mein individuelles Unvermögen abzubilden, sondern symptomatisch für Konsequenzen von gewissen Disziplinierungen beider Bereiche zu sein. Der Alternativsinn, von dem eingangs die Rede war, war zumindest in meinem Fall regelrecht amputiert worden. Die Starrheit der Formen hatte offensichtlich auch mein Denkvermögen beschnitten. Und das sage ich, obwohl ich noch im Magister studiert (und anfangs auch gelehrt) habe. Wie viel stärker muss dieser Effekt erst in den extrem linearisierten, das heißt Abweichungen verhindernden oder zumindest stark erschwerenden Formaten von Bachelor- und Masterstudiengängen sein, in denen kaum noch projekt- oder problembezogen gelehrt und gelernt wird?

AL: Und jetzt arbeitest du seit über acht Jahren am ZPS/TdV und bist dort gewissermaßen zur Expertin für Alternativsinn geworden. Kannst du konkretisieren, was dir diesen Alternativsinn möglich gemacht hat?

AS: Ja, ich denke, dass es mit der tatsächlich interdisziplinären Arbeitsweise am ZPS/TdV zu tun hat. Ich sage tatsächlich, weil es seit einiger Zeit viele interdisziplinäre Arbeitszusammenhänge gibt, in denen diese Interdisziplinarität nur auf dem Papier besteht. Das ist auch nicht verwunderlich, weil die Strukturen, insbesondere die zeitlichen Strukturen oft nicht hergeben, dass eine wirkliche Auseinandersetzung stattfinden kann. Eine wirkliche Aus‐einander-setzung ist ja zunächst immer auch eine Dekonstruktion, und die ist m.E. notwendig, wenn es darum gehen soll, sehend für die eigenen blinden Flecken (durch den fremden Blick der anderen) zu werden, Selbstverständlichkeiten infrage zu stellen. Da kommen wir wieder zur Wichtigkeit des Zwischen, der Grenze: Das Zwischen ist ein Raum und eine Zeit, das sich dadurch auszeichnet, dass es nicht fest‐gelegt ist und sich auch nicht festlegen lässt, weil das Zwischen immer in Bewegung ist. (Es ist übrigens ein Talent des Theaters das Zwischen als Möglichkeitsraum begreifbar zu machen.) Auch Utopie (als Superlativ des Möglichen) bedeutet ja wörtlich einfach Nicht-Ort und kennzeichnet so auch die Gleichzeitigkeit von Abwesendem und Möglichem als eine Art konstruktiver Dekonstruktionskraft (im Erkennen dessen was ist und seiner Differenz zu dem was sein könnte). In dieser Kraft des Zwischen können wir laut Hannah Arendt im Sinne der vita activa Freiheit erlangen:

Ursprünglich erfahre ich Freiheit und Unfreiheit nur im Verkehr mit anderen und nicht im Verkehr mit mir selbst. Frei sein können Menschen nur in Bezug aufeinander, also nur im Bereich des Politischen und des Handelns; nur dort erfahren sie was Freiheit positiv ist und dass sie mehr ist als ein Nicht‐gezwungen werden.12

Freiheit bedeutet dabei nicht die Abwesenheit von Grenzen, Beziehungen oder Bindungen, sondern die Möglichkeit sie zu verhandeln und ggf. zu verflüssigen. Deshalb brauchen wir Zwischenräume und Zeiten innerhalb und außerhalb der Institutionen, die hauptsächlich dazu dienen, dass wir uns verunsichern lassen. Sicherheit und Freiheit sind dann keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Das ist die Freiheit, die wir uns wünschen und nicht die radikale, die grausame Freiheit, die nur mit und durch den Verlust jeglicher Beziehungen zu haben ist. Wir wollen die Freiheit uns verunsichern zu lassen (was die Sicherheit des Einlassens verlangt). Diese Verunsicherungen sind der Bereich des Zwischen, der Liminalität, wo das Mögliche mit dem Wirklichen in Berührung treten kann.

AL: Das ist auch meine Erfahrung. Die Haltung Philosophie nur für Philosophen zu praktizieren scheint mir fatal und gemessen an ihren eigenen Zielen zu scheitern. Was macht denn Philosophie relevant, wenn nicht ihr Anspruch, einen Beitrag zur Frage nach dem guten Leben zu liefern? Und wenn ein solcher Beitrag geliefert werden soll, kann er das nur in Anschauung von Lebenswelt und ihren aktuellen Herausforderungen. Die Philosophie muss infizierbar bleiben, um selbst ansteckend und dadurch relevant zu sein. Sie muss einer endlosen Bewegung von Öffnung und Schließung folgen, muss empfänglich bleiben und darf sich nicht hermetisch abriegeln. Das gilt für den Austausch mit anderen Disziplinen, aber auch für den außerakademischen Austausch mit der Welt.

AS: Seltsamerweise scheint sich mir diese Abriegelung gegenüber anderen Disziplinen und außerakademischen Einflüssen (nicht nur in der Philosophie) mit der Digitalisierung verstärkt zu haben. Dabei verspricht doch gerade die Digitalisierung ungeahnte Möglichkeiten der Vernetzung. So, wie sie (besonders im universitären Kontext des E-Learnings) eingesetzt wird, wirkt sie aber de facto separierend. Während es zum Beispiel bei einem Semesterapparat in der Bibliothek ohne weiteres möglich war, einen Text aus einer anderen Disziplin anzusehen, ist es bei vielen E-Learning-Plattformen noch nicht einmal möglich, Zugang zu einem Text eines anderen Seminars derselben Disziplin zu erhalten, ohne sich für dieses Seminar anzumelden …

AL: Im Kontext der Performance Philosophy wird bisweilen die Frage angestoßen, ob nicht der ganze Wirbel um Performativität in der Philosophie als weiterer Baustein der Selbstdarstellungstendenzen in der digitalen Welt betrachtet werden könne. (Also auch im Sinne von neoliberalen Ansätzen der Performance-Diskussion als performative Skills verstanden, die nur dazu dienen sollen, einen Inhalt besser vermarkten zu können.) Es wird dabei suggeriert, dass Performance Philosophy sich solchen Strömungen anschließt, die Verpackungen optimieren, ohne dass sich die Inhalte verbessern. Auf der anderen Seite werden dann die performativitätsvergessenen philosophischen Praktiken geradezu als widerspenstige Praktiken gegen solche neoliberalen Tendenzen glorifiziert. Das ist natürlich Unsinn. Auch wenn es philosophische Praktiken gibt, die ihre eigene Performativität nicht reflektieren, haben sie trotzdem performative Eigenschaften, die selbstverständlich auch Wirkungen erzielen. Es geht nicht darum, aus Philosoph*innen Performer*innen oder aus Performer*innen Philosoph*innen zu machen, aber Philosophie zu betreiben, ist nichts anderes als ein performativer Akt, der gewissermaßen aufgeführt werden muss. Also performt ein Philosoph auch automatisch immer etwas, wenn er Philosophie betreibt. Performance Philosophy geht es schlicht darum, diese performativen Eigenschaften reflektierbar und damit auch verhandelbar zu machen.

AS: Dabei ist Performance Philosophy ja durchaus als ein Zeichen der Zeit zu verstehen. Mit dem Performative Turn geht ein gesteigertes Interesse an Fragen des Performativen einher. Man müsste richtiger sagen, »ein gesteigertes Interesse an inhaltlichen Fragen des Performativen«, denn in den Formen regiert nach wie vor der Linguistic Turn mit seiner Devise, »alles als Text« zu verstehen. Diese Devise scheint mir auch einer der Gründe dafür zu sein, dass wir in der universitären Bildung wieder einen immensen Überhang an textbasierter Wissensvermittlung vermelden können. Hier tut natürlich die Massenuniversität und die Digitalisierung das Übrige dazu, jedoch muss man sagen, dass gerade die Digitalisierung ganz andere Formen der Wissensvermittlung als Möglichkeit bereitstellt, die aber wie gesagt bisher weitestgehend ungenutzt bleiben. Der digitale Fortschritt ist ein trauriges Beispiel dafür, was geschieht, wenn Formate unreflektiert bleiben. Es wurde sich in wissenschaftlichen Kreisen bisher einfach viel zu wenig mit den Möglichkeiten der neuen digitalen Formate befasst, so dass sie in vielen Fällen für die Performanz der Disziplinen bisher eher reduzierend als erweiternd gewirkt haben. Michel Serres hat vor einigen Jahren ein aufrührerisches Büchlein verfasst, in dem er sich mit solchen Möglichkeiten auseinandersetzt und zu der Ansicht gelangt, dass wir über die Aufgaben unserer Bildungsinstitutionen von Grund auf neu nachdenken müssten. Die Schulen und Universitäten sind nicht mehr länger die exklusiven Hüter*innen des Wissens, es ist jetzt vielerorts verfügbar, so dass wir nicht mehr die Übermittlung von Wissensinhalten, sondern den Umgang mit diesem Wissen zum obersten Gebot machen müssten. Er fragt:

Weshalb stehen diese Neuerungen immer noch aus? Ich fürchte, ich muss unsere Philosophen dafür verantwortlich machen, Leute, zu denen ich selbst gehöre, die berufen sind, künftige Wissensformen und Praktiken vorwegzunehmen – und die, wir mir scheint, an ihrer Aufgabe gescheitert sind. Ganz von der Tagespolitik eingenommen, haben sie nicht kommen sehen, was derzeit geschieht.13

Das hat für mich damit zu tun, was du oben als Frage in Bezug auf »Philosophie für Philosophen« aufgeworfen hast (dasselbe würde für »Theater für Theaterleute« gelten). Es gibt aktuell viele, sehr viele drängende Themen, von denen es in diesen Zeiten der großen gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse dringend wünschenswert wäre, dass die Philosophie, genau wie die Kunst, Haltungen dazu ausarbeiten würde. Dazu wäre eine Neuausrichtung der universitären Praktiken, nämlich im Sinne tatsächlicher inter- und transdisziplinärer Vernetzung statt disziplinärer Separierung, eine vielversprechende Maßnahme.

AL: Hier muss ich wohl uns selbst zitieren, wenn wir in der Einleitung unseres letzten Essaybandes schreiben:

Heute ist die Begegnung mit dem Fremden in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen zum Thema geworden. Fremde Menschen kommen in ihnen fremde Länder, worauf manche Alteingesessene in diesen Ländern befremdlich reagieren. Sogenannte »Filterblasen« im Internet verhindern oder erschweren zumindest die Begegnung mit dem Unbekannten, und das Begegnen selbst droht im Zeitalter der Beschleunigung und des Digitalismus zu etwas Fremden zu werden.14

Das hat mit dem zu tun, was einen inter- und transdisziplinäre Austauschprozesse lehren können: die Begegnung mit dem Fremden und das produktive Fremdmachen der eigenen Gewohnheiten. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Überforderung durch die schiere Masse an Informationen, die täglich auf uns einprasseln, uns bequem oder sogar lethargisch werden lässt. Genauso wenig dürfen wir zulassen, dass sie uns zu einem beinahe neurotischen Rückzug in standardisierte Abläufe führt, von denen wir keinerlei Abweichungen dulden. Ich finde, hier trifft deine Kontrastierung von »Holzwege« vs. »Autobahnen« wieder gut zu. Holzwege sind mühsam, man verirrt sich auch mal, weil sie noch nicht ausgetreten sind, aber gerade das macht sie zu Wegen der Erforschung, Wegen der Wissenschaften! Autobahnen dagegen verlaufen in rasantem Tempo immer nur starr in eine Richtung und Abweichungen sind für alle Beteiligten lebensgefährlich. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Eigenschaften sind, die die Wege der Wissenschaften charakterisieren.

Alice Lagaay ist seit 2018 Professorin im Fachbereich Theorie im Design Department der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg. Während ihrer Zeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Bremen (2012-2016) lernte sie das Zentrum für Performance Studies mit seinem angegliederten Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst15 (unter der Leitung von Jörg Holkenbrink) kennen. Das Theater der Versammlung begleitete alle ihre Philosophieseminare in Bremen; gemeinsam entwickelten sie viele performance‐philosophische Interventionen, die sie unter anderem bei internationalen Konferenzen in Chicago, Wien oder Prag präsentierten. Sie ist Mitgründerin des internationalen Forschungsnetzwerks Performance Philosophy (www.performancephilosophy.org) und Mitherausgeberin der gleichnamigen Buchreihen bei Palgrave Macmillan sowie bei Rowman & Littlefield International.

Anna Suchard (vm. Seitz) ist Dramaturgin, Philosophin und Theater-, Film- und Medienwissenschaftlerin. Sie studierte in Frankfurt a.M. und in Zürich. Als Dramaturgin realisierte sie zahlreiche Theater- und Tanzproduktionen im In- und Ausland. Sie ist Teil des Leitungskollektivs [ca.si.an] des Zentrums für Performance Studies der Universität Bremen und des angeschlossenen Theaters der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst. Nach ihrer philosophischen Dissertation zur Performativen Forschung und Performanz in der Forschung, hatte sie bis 2021 die Gastprofessur für Dramaturgie und Medientheorie an der HAW Hamburg inne.

Endnotes

1 Teile dieses Dialogs wurden bereits hier veröffentlicht: Alice Lagaay & Anna Suchard (vm. Seitz): »Zur Performativität von Theorie im Kontext von Performance Philosophy – Ein dialogisches Experiment der Bejahung«, in: Rebentisch, Juliane (Hg.): Kongress Akten. Band 4: Das ist Ästhetik!, Deutsche Gesellschaft für Ästhetik: www.dgae.de/kongresse/das‐ist-aesthetik/(6/2018).

2 Teile dieses Dialogs wurden bereits hier veröffentlicht: Alice Lagaay & Anna Suchard (vm. Seitz): »Zur Performativität von Theorie im Kontext von Performance Philosophy – Ein dialogisches Experiment der Bejahung«, in: Rebentisch, Juliane (Hg.): Kongress Akten. Band 4: Das ist Ästhetik!, Deutsche Gesellschaft für Ästhetik: www.dgae.de/kongresse/das‐ist-aesthetik/(6/2018).

3 Vgl. https://www.soundcheckphilosophie.de.

4 Vgl. www.performancephilosophy.org.

5 Martin Heidegger: Was ist das – die Philosophie?, Tübingen: Niemeyer 1956, S. 8f. [Hervorhebungen im Original].

6 Richard Carp: »Integrative Praxes: Learning from multiple knowledge formations«, in: Issues in Integrative Studies, Vol. 19, 2001, S. 74. Darin zitiert: Donna Haraway. Situated knowledges: The science question in feminism and the privilege of partial perspective. In Agnew J., Livingstone, D. N., and Rogers, A., (Eds.), Human geography: An essential anthology (pp. 108-128). Oxford, UK: Blackwell 1996.

7 Michael Polanyi: Implizites Wissen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 14.

8 Carp, »Integrative Praxes«, S. 99.

9 Jean-Jacques Rousseau: Die Bekenntnisse (1770), München 1978, S. 172f.

10 Michel de Montaigne: Essais, III, Frankfurt a.M.: 1809, S. 72ff.

11  Friedrich Nietzsche: Ecce homo (1889)/Warum ich so klug bin, § 1.

12 Hannah Arendt: »Freiheit und Politik (1958)«, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München: Piper 2000, S. 201

13 Michel Serres: Erfindet Euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, Berlin 2013, S. 21

14  Alice Lagaay & Anna Suchard (vm. Seitz) (Hg.): Wissen Formen. Performative Akte zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst, Bielefeld: transcript 2018, S. 12.

15  Das Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst (TdV) gilt als eines der ersten Forschungstheater Deutschlands. Es wurde 1992 unter der Leitung von Jörg Holkenbrink im Rahmen eines gleichnamigen Modellversuchs der Bund-Länder-Kommission für Bildungsfragen ersonnen, erhielt 1993 den Berninghausen-Preis für ausgezeichnete Lehre und ihre Innovation im Hochschulbereich und wirkt seit 2004 als Herzstück des Zentrums für Performance Studies an der Universität Bremen. Im TdV kooperieren Studierende und Dozent*innen unterschiedlicher Fachrichtungen mit professionellen Aufführungskünstler*innen unterschiedlicher Sparten. Das Ensemble wandert von der Produktionstechnik über die Informatik bis zu den Sozial-, Kultur- und Bildungswissenschaften durch die verschiedenen Fachbereiche. Dort untersucht es Themen und Fragestellungen, die in den Seminaren theoretisch behandelt werden, mit den Mitteln der Performance. Die entstehenden Inszenierungen werden weit über Bremen hinaus auch international aufgeführt und diskutiert, unter anderem in den Bereichen Beruf und Wirtschaft, Schule und Hochschule, Gesundheit oder Kultur. Die gewonnenen Erfahrungen fließen anschließend wieder in universitäre Arbeitszusammenhänge zurück. Die Bremer Performance Studies bilden für diese untersuchende und intervenierende Form der Theaterarbeit aus (www.tdv.uni‐bremen.de/konzept.php).

keyboard_arrow_up
Logo small
  • Das ist transcript
  • Programm
  • Förderer
  • Newsletter abonnieren
  • Kontakt
  • Impressum / Datenschutzerklärung