INTRO
Aus dem Buch: Digitalität tanzen!. Über Commoning & Computing
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Digitalität tanzen ist wortwörtlich zu nehmen, wie etwa Tarantella, Cancan oder Techno zu tanzen. Doch während letztere als Tanz- und Musikstile etabliert sind und mit entsprechendem Aufwand erlernt und geübt werden können, ist Digitalität kein Tanz, sondern ein sich ständig ändernder Zustand, der vor allem durch unmenschliche, digitale Medien- und Informationstechnologien gezeitigt wird. Wie der Medienwissenschaftler Jan Distelmeyer (*1969) in seiner Kritik der Digitalität zuspitzte, entpuppt sich dieser Zustand als »Zumutung«.1 Digitalität fordert und drängt sich auf, automatisiert, isoliert, zerteilt, kontrolliert, überwacht, verhindert, diskriminiert, schließt aus, entwertet, verschleißt und vernichtet auf vielen Ebenen. So wie gegen den Wind getanzt werden kann, müssen wir auch den Kontra-Tanz gegen diese Prozesse der Entmachtung im Alltag lernen! Digitalität tanzen ist folglich ein verrückter, närrischer Wunsch, diese Zumutung zu verarbeiten und gemeinschaftlich-selbstbestimmt gestalten und bewegen zu können. Aus der Zumutung soll eine erfreuliche Anmutung werden, und so handelt dieses Buch vom Transformationspotential dieses Wunsches. Es wird nicht nur um Commoning, also KommOnismus,2 und Computing, das heißt Komputation, gehen, sondern um eine Kritik der Digitalität, die auseinander nimmt, aber gleichzeitig auch Vorschläge macht und repariert.
Digitalität tanzen rückt die Kooperativität digitaler Technologien als dynamisches Ensemble raumzeitlicher Aktualisierung, Entfaltung und Artikulation und als integratives, immer wiederkehrendes Tanzen im Geflecht multiskalarer Körper-Umwelt-Medien-Technologien – von den Mikroben bis zum Weltall – in den Blick und macht sich damit selbst als Modus Operandi eines alternativen Weges am Horizont der Möglichkeiten sichtbar.
Um Digitalität tanzen greifbarer zu machen, werden hier vier Bemerkungen vorangestellt: Tanzen ist erstens (1) als ein gemeinsames Tun und eine körpergebundene Gestaltungspraktik zu betrachten. Frei assoziiert seien damit Vorgänge der Selbstgestaltung, mitunter der individuellen, aber vor allem kollektiven Selbstorganisation und Bewegung. Um selbstbestimmt zu tanzen, ist nicht nur körperliche Koordination und Beweglichkeit gefragt. Tanzen ist eine mediale Tätigkeit: Ohne Gedächtnis, ohne Erinnerung, das heißt verkürzt: ohne Speicherung, Übertragung und Prozessierung gibt es keinen Tanz. Kritisch für den Tanz ist die Kooperation mit Mitmenschen, denn alleine kann kein Tanz gelernt werden. Tanzen ist gesellig. Oft sind dabei Prozesse der Auflockerung von vormals als unveränderlich angenommenen Strukturen und Potentialen im Spiel. Schon Karl Marx (1818–1883) wollte die alten Verhältnisse zum Tanzen bringen. Doch die Beschaffenheit des Bodens und die Atmosphäre des Raums in dem sich die Tanzenden bewegen und situieren, also ihre Umwelt, wirkt sich auf den Tanz und dessen Tanzbarkeit aus. Politische, historische und soziotechnische Kontexte können die Zeitigung und Verräumlichung eines Tanzes mit beeinflussen. Pessimistisch betrachtet, können Kontexte sogar vollumfänglich bestimmen was, wie und wann getanzt wird. Man denke da an Situationen, die das Tanzen verbieten oder durch die Unbeweglichkeit bestimmter Strukturen verhindern.
Digitalität soll zweitens (2) vermenschlicht werden. Damit ist kein Anthropomorphismus, aber eine Vermenschlichung, die nicht mehr vom sogenannten Menschen ausgeht, sondern Menschlichkeit aus der kleinteiligen, mikrologischen Sicht des Lebendigen, der neurophysiologischen Signale, des Stoffwechsels, der Vererbung, der Mikroorganismen und biologischen Evolution, der Ökologie, Regeneration und Adaption betrachtet, gemeint. Vor allem die Ebene der Biotechnologie und Bioelektrochemie verbindet den lebendigen, menschlichen Körper, etwa als elektrophysiologisches, somatisches Gefüge mit techno-medialen Dispositiven der Digitalität. Während auch hier die hegemonialen Kräfte des Kapitals und ein Sachzwang namens Profitstreben im Spiel sind und für Zuckungen sorgen, kann durch den Wechsel ins Lebendige Widerstand geboten werden. Wir können den Zuckungen, Impulsen, Signalen und Rhythmen der Digitalität durch einen widerständigen, eigensinnigen Tanz trotzen und aktiv entgegen steuern. Dabei ist jedoch Vorsicht und Sorgfalt geboten, denn das getätigte, gemeinschaftliche Tanzen darf nicht ausschließend, aggressiv oder gar gewalttätig werden.
Drittens (3) ist Digitalität tanzen damit ein Effekt des Wunsches, die Negativität von Paranoia (nicht im engen Sinne als psychische Störung, sondern vor allem im weiten Sinne als kollektive Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien, die nicht nur alles miteinander verflechten und als feindselige Handlungsgefüge konstruieren, sondern auch Angst und Ressentiments schüren oder gar Aggressionen erzeugen) vulgär-dialektisch in eine stets veränderliche, rücksichtsvolle Positivität zu transformieren. Tanzen wird in diesem Buch nicht als Manie, als gesellschaftliche Pathologie, als Tanzwut, als Volkskrankheit normativ-elitistisch abgewertet, sondern als kritischer, offener, adaptiv-selbstorganisierender Kontra-Tanz, als Widerstand, als Bewegung, als Wunsch und Ansteckung im Namen einer gesamtgesellschaftlichen Transformation artikuliert. Das Gefühl, dass alles miteinander zusammenhängt, ist längst eine soziotechno-ökologische Tatsache geworden, die Digitalität nicht nur mit Kapitalismuskritik, mit der planetarischen Klimaerwärmung oder dem Rückgang der Biodiversität, sondern auch mit der globalen Covid-19-Pandemie 2020 ff., dem Überfall russischer Truppen auf die Ukraine im Frühjahr 2022, den aktuellen und kommenden Energiekrisen, den Hungersnöten und den Inflationswellen koppelt.
Digitalität tanzen ist folglich, viertens (4) ein Szenario, ein Programm, eine Idee, ein Vorschlag, eine Anleitung für eine flüchtige Bewegung, ein »Bündel von Praktiken« oder eine »Lebensform«,3 wie die Philosophin Rahel Jaeggi (*1967) es vielleicht formulieren würde, die bestrebt ist, die kommenden Katastrophen möglichst ohne Gewalt, Verletzung der Menschenwürde und Ungerechtigkeiten zu überstehen und vielmehr versucht, gewaltsam getrennte Gesellschaftssphären wieder zusammenzufügen. Theoretische Grundlagen dafür stammen aus zwei bisher eher getrennten, disparaten Feldern, die es zu verflechten und gleichzeitig durch aktuelle Positionen zu erweitern gilt: Erstens werde ich die Wertkritik nach Robert Kurz (1943–2012) und dessen Ansätze zu einer Aufhebung des Kapitalismus mittels Entkopplung aufnehmen,4 die er in den 1990er-Jahren, inspiriert durch den Siegeszug des Computers und das Aufkommen des Internets entwickelte. Zweitens werde ich diese wertkritisch-marxistisch inspirierte Transformationstheorie mit einem weiteren deutschsprachigen Theoriefeld, nämlich mit der Medienwissenschaft, die etwa zeitgleich im Umfeld von Friedrich Kittler (1943–2011) entstand, synthetisieren. Damit die kühnen Ansätze von Kurz, vor allem in ihrer überzeugenden Weiterentwicklung durch Simon Sutterlütti (*1991) und Stefan Meretz (*1962), die sie 2018 in Kapitalismus aufheben – Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken formulierten, auch für die bereits begonnenen 2020er-Jahre greifen können, schlage ich vor, sie medientheoretisch zu erweitern. Dabei geht es mir, verkürzt artikuliert, darum, Karl Marx mit Michel Foucault (1926–1984) zu energetisieren und das Explosiv mit Friedrich Kittler zu katalysieren und zu verflüchtigen.
Medienwissenschaft im Sinne einer Fortführung der Diskursanalyse, Archäologie, Genealogie und Kritik nach Foucault, mit der Zuspitzung auf die Weisen der Speicherung, Übertragung und Prozessierung von Information, macht den blinden Fleck sichtbar, den viele Denker:innen kommender Transformationsprozesse als gesellschaftliche Vermittlung oder als Beziehungsweise 5 adressieren und gibt ihm eine starke Bedeutung, das heißt eine Agentur, die über die reine Neutralität von Mitteln, Instrumenten und Medien hinausgeht. Der instrumentellen Applikation der Digitalität im Zuge der Profitgenerierung und ubiquitären Verwertung soll mit ihrem technologischen Eigensinn gekontert werden.
Während meine vor fast zehn Jahren verfasste Dissertation vor allem die Technizität der Digitalität medienarchäologisch untersuchte, aber das Politische und Gesellschaftliche außen vor ließ, werde ich hier das Algorhythmische, das heißt die Rhythmik, Materialität und Produktivität der Algorithmen, nicht als historische Gegebenheit nehmen.6 Im Gegenteil: Ich werde aus der entgegengesetzten Richtung artikulieren und konturieren, wie Digitalität neue Rhythmen, Tänze und Bewegungen ermöglichen könnte, die den Kapitalismus und die damit einhergehende Selbstzerstörung der bisher liberal-bürgerlich geprägten Gesellschaft aufzuheben und in etwas Neues zu transformieren vermögen.
Zuerst gilt es dabei, eine Theorie der Kooperation auszuführen, die entlang des Begriffspaars Commoning und Computing entfaltet wird und zeigt, wie wertkritisch-marxistisch inspirierte Transformationstheorien im Kontext der Digitalität aktualisiert und erweitert werden könnten (Teil I). Danach werden die Kernaspekte, Perspektiven, Rhythmen, Refrains und das Repertoire des närrisch geforderten Kontra-Tanzes entfaltet und präfigurativ beschrieben (Teil II).
Das argumentative Vorgehen im Buch ist durch eine Haltung bestimmt, die Subjektivierung, zugespitzt: Unterwerfung durch die vorgefundene Zumutung, nicht als gegeben nimmt, sondern dagegen tanzt: Kritik als Kontra-Tanz. Judith Butler (*1956) macht hier den Auftakt, indem sie mit Foucault Kritik nicht nur als Beurteilung und Bewertung, sondern vielmehr als Tätigkeit, die das regulierende und regierende Gefüge der Bewertung, das heißt die Kritik als solche auf ihre unterwerfenden Regeln hin herausarbeitet. Dazu gehören sowohl historisch-archäologische und forensisch-genealogische Kontextualisierungen der jeweils gegebenen Konstitutionsbedingungen als auch die Suche nach »Momenten, in denen sie [die Bedingungen] ihre Kontingenz und ihre Transformationsfähigkeit preisgeben.« 7 Kritik beginnt mit einer Befragung der Lage, des Dispositivs, der Umwelt, der Situation, der Regeln – wie beim Tanzen. Um zu tanzen bedarf es einer lockeren, offenen und adaptiven Haltung. Als Praxis der »Entunterwerfung« kommt Kritik jedoch erst in Bewegung, wenn sie eigenwillig, selbst-bildend eine Stilisierung 8 übt, die gleichzeitig veränderlich und flüchtig sein muss. Dementsprechend oszilliert Digitalität tanzen zwischen Lagebefragungen sowohl vergangener als auch aktueller Situationen und Vorschlägen, die manchmal auch als Forderungen formuliert werden. In Was ist Aufklärung?, eine seiner letzten Veröffentlichungen, schärfte der späte Foucault sein Verständnis der Kritik und beschrieb sie als experimentelle Haltung und »geduldige Arbeit«, die gleichzeitig »historische Analyse der uns gegebenen Grenzen […] und ein Experiment der Möglichkeiten ihrer Überschreitung [ist].« 9 Das experimentelle Tanzen an Grenzen, über sie hinaus und um sie herum bietet das Hintergrundgestöber und den Grundton für das hier Folgende.10
Anmerkungen
1 Jan Distelmeyer, Kritik der Digitalität, (Wiesbaden: Springer, 2021), 1 f.
2 Simon Sutterlütti und Stefan Meretz, Kapitalismus aufheben. Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken, (Hamburg: VSA Verlag, 2018), 154 ff. Der Begriff wird durch den ganzen Text hindurch mit »O« als Binnenmajuskel geschrieben, um die Differenz zum Buchstaben »u« im Wort Kommunismus zu verdeutlichen.
3 Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, (Berlin: Suhrkamp, 2014), 77 ff.
4 Vgl. Robert Kurz, »Antiökonomie und Antipolitik. Zur Reformulierung der sozialen Emanzipation nach dem Ende des ›Marxismus‹«, krisis. Beiträge zur kritik der warengesellschaft 19 (1997): 51–105.
5 Bini Adamczak, Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende, (Berlin: Suhrkamp, 2017).
6 Vgl. Shintaro Miyazaki, Algorhythmisiert. Eine Medienarchäologie digitaler Signale und (un)erhörter Zeiteffekte, (Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2013). Siehe dazu Fußnote 128.
7 Judith Butler, »Was ist Kritik?: Ein Essay über Foucaults Tugend«, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50, Nr. 2 (1. April 2002): 249–66, hier 261.
8 Ebd., 258.
9 Michel Foucault, »Was ist Aufklärung?«, in Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, hg. von Eva Erdmann, Rainer Forst, und Axel Honneth, (Campus, 1990), 35–53, hier 53.
10 Die politische Theoretikerin Rahel Süß (*1987) betont die Wichtigkeit des Experiments für die Demokratie: »Indem Demokratie aber selbst zum Experiment wird – dem Bewusstsein der Möglichkeit ihrer Scheiterns –, kann sie als politische Praxis, die beständig provoziert, erneuert werden.« Rahel Süß, Demokratie und Zukunft: Was auf dem Spiel steht, (Wien: Edition Konturen, 2020), hier 61.